Im theoretischen Denken von Elisabeth Katschnig-Fasch geht es immer wieder um die Analyse von Ungleichheiten, die die zunehmende Differenzierung der Gesellschaft in der Spätmoderne reflektiert. Insbesondere geht es in ihren Darstellungen darum, das „stille soziale Sterben“ benachteiligter Bevölkerungsgruppen in der Leistungsgesellschaft wahrnehmbar zu machen. Dabei hat sie keineswegs so etwas wie eine Zweiklassengesellschaft im Blick[1], innerhalb der eine Tendenz zur Spaltung hinsichtlich des Bildungsniveaus evoziert wird – also auf der einen Seite die gebildeten und gelehrten Menschen und auf der anderen Seite jene, die handelnd die Welt erfahren. Elisabeth Katschnig-Fasch geht es in Anlehnung an Pierre Bourdieu vielmehr um die Unterscheidung der sogenannten „rechten Hand des Staates“ – der PolitikerInnen, BeamtInnen, MinisterialrätInnen usw. – die nicht mehr weiß, was die „linke Hand“ – die Helfenden, die SozialarbeiterInnen, die LehrerInnen, die ArbeiterInnen – tut.[2] Als Metapher diente ihr vielfach das von Ulrich Beck entworfene Bild des „Fahrstuhleffekts“[3], das besagt, dass alle Menschen der westlichen Welt hinsichtlich sozialer, symbolischer und materieller Werte ein Stockwerk höher gekommen seien, jedoch gleichzeitig die Abstände der Chancen zwischen den Schichten sowie der Druck, irgendwie noch standzuhalten, größer werden.[4]

Immer wieder verwies Elisabeth Katschnig-Fasch darauf, dass das Fach Volkskunde/Kulturanthropologie eigentlich Theorien anderer Fachbereiche qualitativ überprüfen müsse und dass es daher nötig sei, Anleihen auch bei Theorien anderer Fächer vorzunehmen. Nur so könnten wir als KulturanthropologInnen die notwendige Tiefe und Präzision erlangen, die eigenen empirischen Ergebnisse entsprechend zu interpretieren und die verwendeten Theorien wiederum, wenn nötig, zu evaluieren. Diese oder ähnliche Aussagen kennen wahrscheinlich viele, die bei Elisabeth Katschnig-Fasch Seminare besucht haben. Ich möchte damit vor allem daran erinnern, wie wichtig für sie theoretische Auseinandersetzungen waren.

Grundlagen von Chancenungleichheit und die Anlagen erhöhter Leistungsanforderungen sieht Elisabeth Katschnig-Fasch bereits in der Schulausbildung begründet. Das Bemühen, dass die Schule für „alle“ da wäre, bezeichnet sie, im „Ganz alltäglichen Elend“ als „Mythos der Durchlässigkeit“, als „Selektionsfalle traditionell wirksamer sozialer Ungleichheiten“. Der Anteil der Arbeiterkinder ist an österreichischen Universitäten innerhalb der letzten Jahrzehnte mit 12% gleich geblieben.[5] Das heißt, dass die attestierte Chancenungleichheit unterer oder benachteiligter Gesellschaftsschichten bereits in der Schule eingeübt wird.

Der Zerfall traditioneller Identitätsmuster geht als „Krise der Normalität“ über äußere Problematiken hinaus und ist zugleich immer auch eine innere Krise, die sich als „kleinbürgerliche Sprachlosigkeit“ äußert und sich als neoliberales Dispositiv kulturell manifestiert. Hier bezieht sich Elisabeth Katschnig-Fasch auf Pier Paolo Pasolini, der die kleinbürgerliche Sprachlosigkeit am „consumismo“ der 1950er und -60er Jahre fest macht.[6] Besonders der symbolische Ausdruck von Machtverhältnissen ist ausschlaggebend dafür, dass die Menschen zur Sprachlosigkeit gezwungen werden.[7] Eine Sprach- und Handlungsunfähigkeit bezeichnet auch der Begriff „Double-bind“, den Elisabeth Katschnig-Fasch immer wieder hervorgehoben hat:

„Gregory Bateson entwickelte an seinen Untersuchungen über die Entwicklung der Schizophrenie eine ‚Double-bind Hypothese‘, die den Beitrag gestörter familiärer Kommunikation und Beziehungen zur Entwicklung dieser Krankheit betont. Die im Double-bind, in einer Beziehungsfalle gefangene Person kann sich, egal was sie auch tut, nicht richtig verhalten.“[8]

Die Beziehungsfalle kann somit gewissermaßen als Resonanz der Erfolgsgesellschaft angesehen werden, in die immer mehr Menschen infolge von Abgrenzungs- und Konkurrenzverhalten hineingezwungen werden. Zentral ist bei Katschnig-Fasch also nicht eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Bildung, sondern das „Verstehen“ individueller Beziehungen an sich. Bourdieu bezeichnet dieses Verstehen als „intellektuelle Liebe“, die notwendig ist, um sich in die Situation eines Anderen überhaupt hineinversetzen zu können. Er meint damit eine „Offenheit, die bewirkt, dass man die Probleme des Befragten zu seinen eigenen macht“ und die Fähigkeit, den Befragten „zu nehmen und zu verstehen, wie er ist, mit seiner ganz besonderen Bedingtheit“.[9]

Krise und Orientierungslosigkeit als immanente Kategorien der Moderne

Elisabeth Katschnig-Faschs Sensibilität für kulturelle Bedeutungen von Krisen, Konflikten oder psychischen Problemen führte sie immer wieder zu Themen, die „Unbehagen“ schürten und auf die Schattenseiten rationaler Weltgestaltung verwiesen. Siegmund Freud kann als stetiger Begleiter ihres Theorieverständnisses bezeichnet werden. Für ihn besteht am Beginn des 20. Jahrhunderts ein Unbehagen, das bekanntlich aus einem geforderten Triebverzicht des Einzelnen resultiert, der die Moderne, die zivilisierte Gesellschaft erst ermöglichte. Max Weber bezeichnet diesen gesellschaftlichen Umbau als „Rationalismus der Weltbeherrschung“. Weber unterscheidet dabei etwa den Rationalismus des Rechts von dem der Wirtschaft und der Wissenschaft, der Politik und bezeichnet diese als „Wertsphären“.[10] Georg Simmel macht aber auch darauf aufmerksam, dass „durch die Mehrheit der sozialen Zugehörigkeiten Konflikte äußerer und innerer Art entstehen, die das Individuum mit seelischem Dualismus, ja Zerreißung bedrohen (…).“ Damit eine klare Linie des eigenen Handelns gefunden werden kann, können diese Rollenkonflikte erhebliche psychische Belastungen nach sich ziehen, die eine Sinnleere und Orientierungslosigkeit zur Folge haben.[11] Diese Form strukturellen Leidens beschreibt Pierre Bourdieu im „Elend der Welt“: Er verweist auf den Konflikt zwischen der Identität der Menschen und den herrschenden neoliberalen Strukturen. Er greift so das Thema der Rollenkonflikte auf und formuliert sie als Gespaltenheit des Habitus, die Simmel, Weber oder auch Freud als prägendes Phänomen moderner Entwicklung beschreiben.[12] Der Einfluss dieser Denkströmungen prägte die wissenschaftliche Auseinandersetzung von Elisabeth Katschnig-Fasch wesentlich und führte schließlich auch zu dem Projekt „Was das Leben schwer macht“ (2001), dessen Ergebnisse in der Publikation „ Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus“ veröffentlicht wurden.[13]

Lebensstile und die Beobachtung von Sinn

Elisabeth Katschnig-Faschs Verknüpfung subjektiver Befindlichkeiten mit kulturellen Veränderungen und räumlichen Strukturen kann vielleicht am ehesten mit der Feststellung von Henri Lefebvre beschrieben werden, dass der Körper mit dem Raum durch Gesten verknüpft werde.[14] Die Gesten des Körpers sind es, die absichtsvoll und eingebunden in spätmoderne Abhängigkeiten als repetitive Kategorien der Dauerhaftigkeit wirken, indem sie den mentalen Raum mit dem physischen Raum verbinden, einen sozialen Raum schaffen. Doch Kultur ist veränderbar, lautete das Credo von Elisabeth Katschnig-Fasch. Die Veränderbarkeit körperlicher Gesten in Beziehung zum Raum ist somit „Grundbedingung“ für die Fortschreibung von Kultur, auch um einen Ausweg aus der Konfusion[15] heutiger Städte und urbanisierter Regionen finden zu können:

„Die Bedeutung des Raumes der Lebensumwelt kann sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig konstituieren: auf der Ebene der symbolischen Bedeutung, in der historisch gewachsenen Beständigkeit des sozialen Handelns oder der Traditionen oder auf der emotionalen Ebene. Als symbolische Bedeutung ist dann das ineinandergreifende System auslegbarer Zeichen zu verstehen. Dieses Kulturverständnis setzt voraus, die Perspektive der befragten Menschen zu verstehen und die ineinander verwobenen und oft verborgenen Vorstellungsstrukturen zu heben.“[16]

Verwobene und verborgene Vorstellungen können als zentrale Analysekategorien Elisabeth Katschnig-Faschs bezeichnet werden. So betrachtete sie Gesellschaft und Kultur gerade nicht als zwei Seiten einer Medaille „die die Zuständigkeit der Disziplinen Kulturwissenschaft und Soziologie eindeutig abgrenzen, vielmehr durchdringen Gesellschaft und Kultur einander. Gesellschaftliche Formen sind per se kultural verarbeitete Formen. Die Spezifik unserer Zuständigkeit liegt genau darin, diese Durchdringungen zu untersuchen. Nicht allein durch die Methode, sondern auch durch einen besonderen inhaltlichen Schwerpunkt akzentuiert sich unsere Zuständigkeit gegenüber den Sozialwissenschaften.“[17]

Neben der Verknüpfung von Psyche, Körper und Raum, sozialen und kulturellen Zuschreibungen stand für Elisabeth Katschnig-Fasch aber letztendlich immer „der Mensch“ im Mittelpunkt. „Es geht immer um den Menschen“, hörte man oft von ihr. Für diese Seite ihres Denkens steht durchaus Edmund Husserl Pate, wenn er in seinem Zugang zur Phänomenologie meint, dass man am „Sein alles Vorgestellten zweifeln kann, nur nicht am Sein seiner selbst, sofern und solange man vorstellt“.[18] Husserl meinte damit, dass Gegenstände subjekt-relativ gegeben seien und daher jederzeit ihre Bedeutung verlieren können. Prinzipiell könnte dies soweit gehen, dass es wegen unserer Täuschbarkeit möglich wäre, dass der ganze Weltglaube zusammenbricht.[19]

Die Veränderungsmöglichkeit von Bedeutungszuschreibungen war im Denken von Elisabeth Katschnig-Fasch immanent vorhanden, vor allem in ihrer Kritik am Neoliberalismus und den Bedeutungsstrukturen, die ihn begleiten. Wie auch immer sich diese globalen Strukturen verändern, der Mensch bleibt doch immer in seiner Welt, mit seinem subjektiven Bewusstsein verankert. So ähnlich sieht es auch Husserl, wenn er sagt, dass die Seinsgeltung des Bewusstseins wegen seiner absoluten Gegebenheit undurchstreichbar und insofern absolut sei.[20] In dieser Sichtweise wurde Elisabeth Katschnig-Fasch insbesondere von den Studien zum „Möblierten Sinn“ geprägt, wo sie schreibt:

„Als Handlung und als Darstellung ist Wohnen immer die Symbolisierung einer Öffentlichkeit, Teil eines vorgegebenen Konstruktes einer bereits vielfach vorkonstruierten Welt in ihrer konkreten Geschichte, aber auch eine individuelle und sozial gebundene Reaktion auf eben diese vorkonstruierte Welt.“[21]

Die Wechselwirkung zwischen Körper und Raum werden für Elisabeth Katschnig-Fasch – in Anlehnung an Maurice Merleau Ponty und Elisabeth List – überhaupt zu den bestimmenden Seins- und Weltkategorien:

„Der Raum bestimmt die Aneignungsmöglichkeiten menschlichen Handelns. Leiblichkeit und Räumlichkeit sind als Erfahrungsformen und Handlungsbedingungen daher wechselseitig aufeinander bezogen, weil die Grundaktivität der Leiblichkeit Bewegung ist, die den Raum gestaltet, und dieser bereits gestaltete und objektivierte Raum wiederum Bewegung und kulturelle Orientierung ermöglicht, vorgibt und oft genug begrenzt oder einschränkt.“[22]

Werden nun Körper, Bewegung und Raum zu den wichtigsten Strukturelementen von Prozessen des sozialen Ausschlusses, wie es Heinz Bude analysiert hat[23], zu einer Praxis der Verletzbarkeit, zur Implementierung des Scheiterns oder zum Kennzeichen des Bruchs, zu degradierenden Prozeduren, die die Menschen marginalisieren, so schließt sich hier der Kreis im Denken von Elisabeth Katschnig-Fasch und man versteht, warum ihr diese „unangenehmen“ Themen so wichtig waren.

Autor: Manfred Omahna: Raum und Wissensformen – Theoretische Zugänge und Denkformen von Elisabeth Katschnig-Fasch, in: Manfred Omahna, Johanna Rolshoven (Hg.): Ver-Arbeiten – Aufsätze und Skizzen zu gesellschaftlichen Umbrüchen in städtischen und ländlichen Räumen. Ein Buch für Elisabeth Katschnig-Fasch, Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie, Band 18, Marburg, Jonas Verlag: 2015, S. 13-16.

Anmerkungen:

[1] Wie es beispielsweise Bernhard Giesens „Entdinglichung des Sozialen“ nahelegt. Vgl. Bernhard Giesen: Die Entdinglichung des Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne. Frankfurt a. M. 1990.

[2] Vgl. Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997.

[3] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986; Beate Krais: Bildungsexpansion und soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland. In: Axel Bolder, Helmut Weid, Walter R. Heinz, Günter Kutscha, Helga Krüger, Artur Meier und Klaus Rodax (Hg.): Jahrbuch Bildung und Arbeit 1996. Die Wiederentdeckung der Ungleichheit. Aktuelle Tendenzen in Bildung und Arbeit. Opladen 1996, S. 118-146, hier S. 143.

[4] Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg.): Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus. Wien 2003, S. 118.

[5] Vgl. Michael Sertl: Mehr Chancengleichheit durch postmoderne Pädagogik? In: Max Preglau, Rudolf Richter (Hg.): Postmodernes Österreich? Konturen des Wandels in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur. Wien 1998, S. 199-218, hier S. 212, zit. nach. E. Katschnig-Fasch: Das alltägliche Elend (wie Anm. 4), S. 384.

[6] Pier Paolo Pasolini: Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin 1975.

[7] Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen. Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1994, S. 75, zit. nach E. Katschnig-Fasch: Das alltägliche Elend (wie Anm.4), S. 384.

[8] Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1994, S. 270, zit. nach E. Katschnig-Fasch: Das alltägliche Elend (wie Anm. 4), S. 390.

[9] Diese Überlegungen erinnern an die Aussage von Benedictus-Spinoza: Man-soll-die-Welt-nicht-belachen-nicht-beweinen-sondern-begreifen.

[10] Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung. Opladen 2000, S. 55, 57, 61f.

[11] Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Leipzig 1908.

[12] Vgl. Manfred Omahna: Plurale Räume. Mentale Stadterfahrung als Instrument globaler Praktiken. Münster u.a. 2006, S. 25.

[13] E. Katschnig-Fasch: Das alltägliche Elend (wie Anm. 4).

[14] Vgl. Corell Wex: Lefebvres Raum – Körper, Macht und Raumproduktion. In: Tom Fecht, Dietmar Kamper (Hg.): Umzug ins Offene. Vier Versuche über den Raum. Wien, New York 1998, S. 32-40, hier S. 36.

[15] Vgl. Ebd.

[16] Elisabeth Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn. Städtische Wohn- und Lebensstile. Wien u.a. 1998, S. 78.

[17] Ebd., S. 39.

[18] Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I. Stuttgart 1998, S. 45.

[19] Vgl. Ebd.

[20] Vgl. Ebd.

[21] E. Katschnig-Fasch: Möblierter Sinn (wie Anm. 16), S. 76.

[22] Ebd. und Elisabeth List: Gebaute Welt. Raum und Körper in ihrem lebensweltlichen Zusammenhang. In: Dies.: Die Präsenz des Anderen. Theorie und Geschlechterpolitik. Frankfurt a. M. 1993, S. 138-154; Elisabeth List: Raum, Körper und Lebenswelt in ihrem politischen Zusammenhang. In: Frei.Räume. Dortmund 1993, S. 54-70.

[23] Vgl. Heinz Bude: Die Überflüssigen als transversale Kategorie. In: Peter A. Berger, Michael Vester (Hg.): Alte Ungleichheiten, Neue Spaltungen. Opladen 1998, S. 363-382.