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Mit dem Titel „Kulturanthropologie und Architektur“ wird auf eine institutionelle Verschiebung an den technischen Universitäten hingewiesen, die gegenwärtig weite Verbreitung findet. Seit den 1980er Jahren werden vermehrt GeisteswissenschaftlerInnen an Lehrstühle von Architekturfakultäten berufen.[1] Die institutionalisierte Trennung zwischen Planung und Lebenswelt wird damit zum Teil aufgebrochen, um Erkenntnisse über Methoden und Formen der Raumaneignung in gestaltungsorientierte Ausbildungsformate zu integrieren.

Architektur als genuin mit menschlichen Strukturen, Symbolen und Funktionen verbundenes Fach ist als Ingenieurswissenschaft besonders seit den Nachkriegsjahren in der Position, gesellschaftlichen Transformationen unter dem Gesichtspunkt des „technisch Machbaren“ zu begegnen. Mit dieser Vorstellung von Architektur wurde zum einen die Alltagsarchitektur ausgeblendet und das Bauen rationalisiert. Zum anderen war es möglich, die Geometrie zum „Maß aller Dinge“ empor zu heben. Die Architekturproduktion war nicht zuletzt wegen des Wiederaufbaues nach dem Zweiten Weltkrieg, der Bevölkerungsexplosion und dem rasanten Wachstum der Städte damit beauftragt, Raum zur Verfügung zu stellen.[2] Bereits nach dem Ersten Weltkrieg wandte sich die Architektur vom Üppigen, vom Historischen sowie vom Emotionalen ab. Die Revolte von Adolf Loos gegen das Ornament oder die Schriften von Mies van der Rohe gelten als Hauptkennzeichen der „modernistischen“ Architektur, die die bauliche Entwicklung stark kritisierte. Nach Stephen Toulmin ermöglichte diese Neuformulierung die Verwerfung des Gedankens einer gesellschaftlichen und kulturellen Vielfalt und es wurde so der Weg geöffnet, allgemeingültige und zeitlose Grundsätze baulich sichtbar, benützbar und erlebbar zu machen.[3]

Eine kulturanthropologisch orientierte Architekturforschung kann sich historisch auf eine „Hausforschung“ als Kernbereich der ehemaligen Volkskunde stützen, welche noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vormoderne Arbeits- und Alltagstechniken untersuchte.[4] Schon hier waren aber epistemologische Tendenzen vorhanden, den Menschen gemeinsam mit materiellen Strukturen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stellen. Das Haus wurde als Summe einzelner Elemente in wechselseitiger Abhängigkeit von Subjektivität und Objektivität aufgefasst.[5] Allerdings hat das Thema Hausforschung auch die Last vieler Versuche zu tragen, „ursprüngliche“ und ethnische Formen des Hauses zu idealisieren. Der Wandel von Bedürfnissen, kulturellen Differenzierungssystemen, gesellschaftlichen Funktionen, Moden, Wünschen und Hoffnungen ist in den „Umbauten, Ausbauten und Neubauten“ (Konrad Bedal) gleichsam eingeschrieben und daher ist eine Untersuchung der Bezüge zwischen den Menschen und jenen Räumen, die sie – im weitesten Sinne – bewohnen, ein erfolgsversprechender Schlüssel zur Analyse der Kultur raumbezogener Praxisformen.

Den Fokus auf den gebauten Raum als kulturelle Praxis zu werfen eröffnet zahlreiche Forschungsfelder: 1. Die Analyse historischer Bauten und Landschaften, die den Prozess gesellschaftlich-kulturellen Wandels beschreiben (Haus-, Stadt- oder Landschaftsbiographien); 2. Die Bautypologie, die Raumordnung sowie die Baugesetzgebung, die vor allem Erkenntnisse über gesellschaftliche Differenzierungen, Hierarchien und Konventionen zulässt; 3. Die Kultur des Bauens selbst, die Erkenntnisse für den performativen und sinnstiftenden Charakter von Herstellungsprozessen eröffnet, sowie Erkenntnisse über die Ökonomie und Reziprozität des Bauens zulässt. Und 4. Die alltägliche Raumnutzung gesellschaftlicher Akteure oder Institutionen, die in der Logik ihrer je spezifischen Praxis Veränderung im Raum quasi veranlassen. Die alltägliche Raumnutzung ist auch der Schlüssel, der neue Wünsche und Ansprüche an den Raum deutlich werden lässt.

Genau für diesen Alltagsgebrauch von Architektur entsteht zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine vermehrte Aufmerksamkeit. Besonders in Berlin und Chicago ist aus dem Interesse an Sichtweisen und Lebensformen der urbanen Bevölkerung eine Form der Stadtforschung entstanden, die auch Gestaltung und Planung maßgeblich beeinflusst hat. Georg Simmel einerseits, Robert Park und Louis Wirth anderseits, sowie die Veröffentlichung der Berliner Großstadtdokumente sind prägende Beispiele dafür, dass der Stadtraum a priori keine Naturgegebenheit ist, sondern das Resultat von alltagsweltlichem Gebrauch, Reflexion und Aneignung. In der anglo-amerikanischen Fachtradition haben qualitative Methoden und teilnehmende Beobachtung schon sehr früh praktischen Einfluss auf die Stadt- und Bauentwicklung genommen. Von besonderem Interesse waren Fragen zur räumlichen Identität, zur Bildhaftigkeit der Stadt und zum Themenbereich Wohnen.[6] Erste Annäherungen zwischen architektonischen und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen gehen auf die späten 1960er Jahre zurück – eine Folge, die aus der Absetzung des „Congrès International d’Architecture Moderne“ (CIAM) durch das Team X 1959 in Otterlo entstanden ist.[7] Die Mitglieder des Team X haben ein neues Klima etabliert innerhalb des Architekturdiskurses bezüglich eines „utopian ideal of sweeping away and replacing existing communities, cultural practices and regional identities determined by climatic and topographical conditions, rather than understanding and building upon them“.[8] Im Zuge der Kritik moderner Architektur, die lediglich Funktionen (Wohnen, Arbeit, Erholung, Verkehr) zur Verfügung stellt, aber keine Orte des Rückzugs und der Identifizierung, entstanden eine Reihe namhafter Publikationen, die auf die Anthropologie des Bauens verweisen und auch Bezüge zum vernakularen Bauen herstellten[9]: Vincent Scully: “The Earth, the Temple and the Gods“ (1962), Sigfried Gidieon’s fünfte Auflage von “Space, Time and Architecture“ (1966), Amos Rappaport: “House, Form and Culture” (1969) oder Christian Norberg-Schulz: “Existence, Space and Architecture (1971).[10] Zu nennen sind in diesem Zusammenhang aber auch die theoretischen Auseinandersetzungen mit dem gesellschaftlichen Raum in Frankreich, wo besonders Michel Foucault, Henry Lefebvre sowie Gaston Bachelard dazu beigetragen haben, die spezifische Referenz zwischen Architektur und Anthropologie offen zu legen.

In den 1970er Jahren begann sich im anglo-amerikanischen Raum ein interdisziplinärer Zusammenschluss von Ethnologen, Soziologen und Geographen zu formieren, die sich als urban ethnographers verstehen.[11] Das Erklärungsmodell der ethnisch-kulturellen community wurde zunehmend in den Hintergrund gedrängt und die Aufmerksamkeit galt vermehrt einer raumgebundenen community[12], an der unterschiedliche Menschen teilhaben. Zudem hat der Einfluss der „Cultural Studies“, dazu beigetragen, den Begriff der Kultur auf alle menschlichen Praxisformen auszudehnen. Der Alltag wurde in all seinen Bereichen zum Vermittler zwischen verschiedenen kulturellen (politischen) Wirklichkeiten unterschiedlicher Felder, indem der Raum, den die Menschen benützen, als Ort des Fühlens, der Reziprozität und der Sinnerzeugung wieder an Bedeutung gewann.

Eine gegenseitige Aufmerksamkeit ist den Fächern Kulturanthropologie und Architektur inhärent. Konkrete Annäherungen sind allerdings eher selten, wie die Sozialanthropologin Susanna Rostas bemerkte: „Although we might think that there could or should be closer ties between anthropology and architecture, there has so far only been an intermittent interconnection between the two disciplines.“[13]

Architektur-Anthropologie

Das Verhältnis zwischen der Person und dem Sozialem ist ambivalent, temporär konfliktiv und verweist auf den Veränderungsanspruch des Raumes als Ausdruck gesellschaftlicher „Einpassungsleistung“. Eine Kritik gegenüber der gebauten Umgebung ist daher als Ergebnis reflexiver Übergänge, sozialer oder kultureller Brüche zu werten, die zum Beispiel als Anspruch auf Effektivität deutlich werden. Der Architekt Peter Blundel Jones spricht von der Eintönigkeit unserer gebauten Welt und argumentiert, „that the competing designs are not equally effective, for […] a different way of life.”[14] Innerhalb eines Diskurses zwischen Kulturanthropologie und Architektur ist auch darüber nach zu denken, wozu eigentlich wissenschaftliche Ergebnisse überhaupt verwendet werden und welche Auswirkungen Erkenntnisse über das Funktionieren gesellschaftlicher Systeme haben können.

Dass sich die Fachbereiche tendenziell annähern, ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass beide Fächer Interesse zeigen, Erkenntnisse über Beziehungen zwischen Menschen und Räumen zu erlangen – ganz davon abgesehen, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Raum gegenwärtig eine Konjunktur erfährt. Doch was kann gerade die Kulturanthropologie zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen Raum und Menschen beitragen und warum ist das Feld der Architektur dabei so interessant?

Susanna Rostas weist darauf hin, dass viel mehr Architekten an Anthropologie interessiert sind als umgekehrt. Sie erhoffen sich durch die Beschäftigung mit Anthropologie Lösungen für Raumkonzepte oder Erkenntnisse darüber, wie sich Relationen im Raum erklären lassen.[15] Clare Melhuish, Sozialanthropologin und Expertin auf dem Gebiet „Anthropology of Architecture“, bemerkt aber insgesamt eher eine Ignoranz der Architektur bezüglich anthropologischer Fragestellungen: „While architecture enjoyed a brief courtship with sociology, there seems to be a fundamental level of suspicion and ignorance about its sister discipline, anthropology.“[16] Das Themenfeld relationaler Praxen im Raum als Ausgangspunkt kultureller Produktion von Raum verbindet die empirische Kulturwissenschaft eher intrinsisch mit dem Fach Architektur, als dass Gemeinsamkeiten offen angesprochen würden.

Erste wegweisende Annäherungen der beiden Fachbereiche attestiert Melhuish erst in den Jahren 1995 und 1996 als das Londoner „Institute of Contemporary Arts“ eine Serie von Architekturgesprächen unter dem Titel „Spaced Out“ veranstaltete. Während die Anthropologen Marc Augé und Charles Rutheiser ethnologische Erkenntnisse des städtischen Raumes präsentierten, stützten sich die Architekten, besonders Christine Boyer auf eine Kritik des Städtischen, die auf Beobachtungen kultureller Praktiken gründete.

Interessant dabei ist, dass die Begegnung der beiden Fachbereiche nicht nur inhaltlich begründet war, sondern auch auf einer Basis der Rhetorik, die auf konkreten Erfahrungen mit den Praktiken der Lebenswelt beruhte. „This marks a significant break with traditional architectural and urban histories, in which the relationship between space, society and culture is rarely scrutinised.“[17] Die Grenzen zwischen Kulturanthropologie und Architektur können daher nur über eine gemeinsame Sprache der Alltagserfahrung überwunden werden.

Sicher, das Erkenntnisziel der Architektur liegt darin, Lösungen für räumliche Probleme zur Verfügung zu stellen und das Erkenntnisinteresse der Kulturanthropologie liegt im Verstehen der Ursachen für bestimmte Probleme. Es soll hier auch nicht darum gehen, kulturanthropologische Erkenntnisse für ein ausführungsorientiertes Fach wie die Architektur zu instrumentalisieren, schon gar nicht soll es darum gehen, beide Fächer zu fusionieren. Vielmehr geht es darum, die kulturelle Produktion von Raum als gesellschaftliche Praxis zu definieren, die lebensweltliche Bedürfnisse und kulturelle Verarbeitungsstrategien in gelebte, räumlich orientierte Handlungsgrammatiken übersetzt. Von den Erkenntnissen über das dynamische Verhältnis zwischen habituellen Fähigkeiten und gebautem Raum als „subjektivem Wahrnehmungsraum“, in dem vielfach repetitive Ereignisse stattfinden und von dem aus andere und neue Räume erschlossen werden, können allerdings beide Fächer profitieren.

Temporäre interdisziplinäre Auseinandersetzungen zwischen Kulturanthropologie und Architektur sollen dem Anspruch einer Erkenntnistheorie gerecht werden sowie Hypothesenprüfungen aus einer Pluralität von Perspektiven zu ermöglichen, um Offenheit und Öffentlichkeit für empirische Erkenntnisse zu ermöglichen.[18] Es ist an der Zeit, die kulturellen Praxen, wie Menschen mit den Anforderungen ihrer Umgebungen fertig werden, als permanenten Prozess genauer und über Fachgrenzen hinaus zu durchleuchten.

 

Autor: Manfred Omahna: Kulturanthropologie und Architektur. Episteme temporärer Begegnungen, in: Johanna Rolshoven, Manfred Omahna (Hg.): Reziproke Räume. Texte zu Kulturanthropologie und Architektur. Cultural Anthropology meets Architecture, Band 1, Marburg: 2014, S. 40-49.

Anmerkungen:

[1] Prominente Beispiele sind die Gründung des Wohnforums an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, die Etablierung des „Institute for Cultural Landscape Studies“ an der Harvard University oder die Einrichtung des Lehrstuhles für Stadtanthropologie und -ethnographie an der Hafen City Universität in Hamburg.

[2] Manfred Omahna: Eigene Räume. In: Peter Janisch, Christina Heinz (Hg.): In Bewegung. Wie Alltag sich verändert, Veröffentlichungen des Freilichtmuseums Hessenpark, Frankfurt am Main: 2009, S. 18-25.

[3] Vgl. Stephen Toulmin: Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt am Main 1994, S. 249-251. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung, die in der neuzeitlichen Wissenschaft seit Descartes das rationalistische Denken beherrscht, in der Architektur aber bis dahin kaum zum Ausdruck kam. Die newtonsche Mechanik erklärte zwar den Lauf der Planeten, zu den Konstruktionsbedingungen der Architektur vermochte es aber keinerlei Beitrag zu leisten. Architektur war bis zur modernen Wende am Ende des 19. Jahrhunderts von der mittelalterlichen Handwerkskunst geprägt. Vgl. Martin Carrier: Wissenschaftstheorie, Hamburg 2006, S. 155.

[4] Z.B. die „Wörter und Sachen-Schule“ des Germanisten Rudolf Meringer oder die Arbeiten über „Häuser und Landschaften“ von Richard Weiss.

[5] Vgl. Rudolf Meringer: Das deutsche Haus und sein Hausrath, Leipzig 1906; Richard Weiss: Häuser und Landschaften der Schweiz, Erlenbach, Zürich 1959, zitiert nach Edwin Huwyler: Häuser und Landschaften der Schweiz – Richard Weiss und die Hausforschung. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Jg. 105 (2009), Heft 1 S. 57-64.

[6] Vgl. Robert E. Park: The City. Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment. In: Robert E. Park, Ernest W. Burgess, Roderick D. McKenzie (Ed.): The City. Chicago 1967 [1925], S. 1-46; Kevin Lynch: The Image of the City. Cambridge 1960; Mihaly Csikszentmihalyi, Eugene Rochberg-Halton: The meaning of things. Domestic symbols and the self. Cambridge 1981.

[7] Vgl. Laurent Stalder: CIAM X. Mobilität und mobile Architektur in den Architekturdebatten der Nachkriegszeit, in: trans (2009), Nr. 15, S. 45.

[8] Claire Melhuish: Why Anthropology? In: Maggie Toy (Ed.): Architecture and Anthropology. London 1996, S. 7.

[9] Vgl. dazu Anita Aigner (Hg.): Vernakulare Moderne. Grenzüberschreitungen in der Architektur um 1900. Das Bauernhaus und seine Aneignung. Bielefeld 2010; Burkhard Pöttler: Vom Bauernhaus zur Wohngemeinschaft. Aspekte volkskundlicher Haus- und Wohnforschung in Österreich. In: Olaf Bockhorn u.a. (Hg.): Volkskunde in Österreich. Bausteine zu Geschichte, Methoden und Themenfeldern einer Ethnologia Austriaca. Innsbruck 2011, S. 151-175.

[10] C. Melhuish: Anthropology (wie Anm. 8).

[11] Vgl. Gisela Welz: Sozial interpretierte Räume, räumlich definierte Gruppen. Die Abgrenzung von Untersuchungseinheiten in der amerikanischen Stadtforschung. In: Waltraut Kokot, Bettina C. Bimmer (Hg.): Ethnologische Stadtforschung, Berlin 1991, S. 31.

[12] Vgl. Johanna Rolshoven: Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung. Theoretische Herausforderungen an eine Kultur- und Sozialwissenschaft des Alltags. In: Zeitschrift für Volkskunde, 99, (2003) 2, S. 189-213.

[13] Susanna Rostas: The Dance of Architecture: From Ritualisation to Performativity and…back again? In: Maggie Toy (Ed.): Architecture and Anthropology. London 1996, S. 19.

[14] Peter Blundell Jones: An Anthropological view of architecture. In: Maggie Toy (Ed.): Architecture and Anthropology. London 1996, S. 25; Henrietta L. Moore: The Subject of Anthropology. Gender, Symbolism and Psychoanalysis. Cambridge 2007.

[15] Susanna Rostas: The Dance of Architecture (wie Anm. 3), S. 19.

[16] Claire Melhuish: Why Anthropology? (wie Anm. 8).

[17] Ebd.

[18] Vgl. Martin Carrier: Wissenschaftstheorie (wie Anm. 3), S. 175.