Theoriegeleiteten Projekte
Das Konzept der „Theoriegeleiteten Projekte“ versucht nun genau dort anzusetzen, wo Raumansprüche beginnen, deutlich zu werden. Dazu ist es nötig, zwei Fachbereiche mit einander zu verknüpfen, die sich genau in jener Phase, in der Raumansprüche deutlich werden, hervorragend ergänzen: Kulturanthropologie und Architektur. Die Verbindung der qualitativen (Feld-)Forschung und die Kreativität der architektonischen Projektentwicklung ermöglichen eine grundsätzliche Ressourcenerhebung in einer bestimmten Region oder in einem Stadtraum. „Theoriegeleitete Projekte“ versuchen, genau danach zu fragen, welche Funktionen grundsätzlich von einer sich stetig verändernden Gesellschaft in einem konkreten Raum benötigt werden.
Die Menschen verlangen quasi selbst nach einem „differenzierten Blick“ in der Planung, durch den lokale Befindlichkeiten, soziale und räumliche Ungleichheit, neue Armut, Tendenzen der Verschwendung und ähnliches erst erkennbar und beschreibbar werden. Die heutige Welt erfordert aufgrund ihres beschleunigten Wandels ein genaueres „Hinschauen“, einen fokussierten und fragenden Blick. Die Menschen verlangen nach einem neuartigen, methodischen Nachdenken über ihre jeweils eigene Art der Andersheit.
Um eine nachhaltige Planung im Raum gewährleisten zu können, müssen Methoden und Theorien des Entwerfens und Städtebauens mit Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften insbesondere mit der sogenannten „Teilnehmenden Beobachtung“ verknüpft werden. Wie im philosophischen Diskurs der Phänomenologie geht es in der heutigen Planung vermehrt darum, „wieder das zu sehen, was Sache ist“, denn das Gemeinte zeigt sich so, wie es gemeint ist und ist so gemeint, wie es sich selbst zeigt. Wie schon Lucius Burckhardt in den 1980er Jahren, muss man sich heute erneut fragen, wer plant eigentlich die Planung?
Theoriegeleitete Projektentwicklung verfolgt das Ziel, die Logik von lebensweltlichen Verarbeitungsstrategien als Folge struktureller Veränderung für die Planung nutzbar zu machen. Es wird danach gefragt, wie bestimmte Milieus, gesellschaftliche Gruppen oder Institutionen Veränderungen verarbeiten und welche kollektiven und individuellen Handlungspraxen daraus resultieren.
Die hohe praktische Relevanz davon, sich erkenntnistheoretisch mit dem Thema qualitative Methoden und Architekturproduktion zu beschäftigen, speist sich aus den zum Teil prekären Situationen, die vielfach für Menschen im Zuge von Veränderungen entstehen. Migrationsbewegungen, gesellschaftliche Differenzierungen, kulturelle Konflikte, wirtschaftliche Umbrüche aber auch technische Innovationen müssen von den Menschen subjektiv unterschiedlich verarbeitet werden und werden das auch.
Die Intention „Theoriegeleiteter Projekte“ stützt sich auf die Frage, welche lokalen Übersetzungspraktiken durch global motivierte Strukturveränderungen ausgelöst werden. Gefragt wird nach den Praktiken, mit denen auf lokaler Ebene global motivierte Strukturveränderungen verarbeitet werden und nach den sozialhistorischen Gründen, die zu unterschiedlichen Strategien der Anpassung und zu deren Gelingen oder Nicht-Gelingen führen (beziehungsweise wie dieses „Gelingen“ oder „Nicht-Gelingen“ definiert wird). Dadurch wird es möglich, lokale oder einzigartige Probleme durch, an den Ort angepasste Projekte neu zu organisieren. Mit „Theoriegeleiteten Projekten“ wird an ein genaueres Hinschauen und einen stärker fokussierten Blick erreicht, um dem Verlangen nach einem neuartigen methodischen Nachdenken über die je eigene Art der Andersheit auch in der Planung nachkommen zu können.
Fragestellungen
Zentrale Fragen einer theoriegeleiteten Projektentwicklung sind: 1. Was sind und waren prägende Handlungsstrategien im Planungsgebiet? 2. Wie stehen sie in Beziehung zum physischen Raum? und 3. Wie können diese unterschiedlichen Handlungspraktiken als Ressource nutzbar gemacht werden? Um differente Handlungsstrategien begreifen und sie als nachhaltige Grundlagen der Planung erkennen zu können, müssen zukünftig auch Planer und Planerinnen dem Unbekannten, Fremden oder Anderen besondere Aufmerksamkeit schenken; man muss lernen, sich auf Unvorhersehbares einzulassen. Am besten holt man sich für diesen Verstehensprozess Feedback von Dritten, von KollegInnen, KulturanthropologInnen oder wie es in der Feldforschung Tradition ist, von AnalytikerInnen. Nur so können blinde Flecke und verborgene Strukturen erkannt und reflektiert werden. Materielle und immaterielle Ressourcen, die als Grundlage und als Ausgangspunkt für Planungen und Projektideen verwendet werden können liegen nicht offen auf der Straße, man muss sich die Sichtweisen im Feldforschungsprozess erarbeiten. Erst nach einer eingehenden Analyse der Feldforschungsergebnisse ist es möglich, lokal vorhandene Materialien oder immaterielle Ressourcen neu zu interpretieren, ihre Bedeutungen zu entschlüsseln und sie als räumliche Charakteristika, (historische) Eigenheiten oder lokal tradierte Handlungspraktiken zu definieren.
Thesen:
- Lokale Eigenheiten als Ressource
Der Charakter eines konkreten Ortes lässt Rückschlüsse auf das „lokale Wissen“ als Qualität und Ressource zu. Die unterschiedlichen sozialhistorischen und lebensweltlichen Hintergründe stellen zudem wesentliche Bedingungen dar, um strukturelle Veränderungen überhaupt erfolgreich verarbeiten zu können.
Folglich lautete der Befund, dass ein bestimmter Raum je eigene Praxisformen als Antwort auf strukturelle Veränderungen entwickelt. Die Etablierung eines unverwechselbaren Charakters fungiert zudem als notwendiges Erkennungszeichen, das auch als Potenzial, als eine „Macht des Lokalen“ innerhalb globaler Systeme interpretiert werden kann. Dieses lokal verortete Potenzial von Individuen, Betrieben und Institutionen als regionale Ressource sichtbar zu machen, ist Ziel dieser praxis- und theoriegeleiteten Forschung.
- Lokale Dynamik als Deutungsschema von Raumbedürfnissen
Handlungspraxen werden prozessual erneuert und den äußeren Bedingungen angepasst. Besonders infolge (biographischer) Brüche sind Individuen, Organisationen usw. aufgefordert, ihre Handlungsstrategien immer wieder neu zu definieren. Veränderungsmöglichkeiten von Handlungspraxen in Bezug auf örtliche Eigenheiten oder Charakterzuschreibungen verweisen auf den von Eric Hobsbawm geprägten Begriff der „invented tradition“, der das Ergebnis dynamischer Aushandlungsprozesse als kulturelle Konstruktion sichtbar macht. Dieser Aushandlungsprozess zwischen gesellschaftlichen Feldern materialisiert sich in Strukturen hierarchischer Organisationen. Besonders in der Gedächtnis- und Kulturerbeforschung wird darauf hingewiesen, dass privilegierte Akteure aus unterschiedlichen Motivationen heraus Werte aus dem „kulturellen Gedächtnis“ herauslösen und sie auf diese Weise mit Status versehen. Genau diese Rolle könnten in Zukunft vermehrt ArchitektInnen übernehmen.
Forschungsmethoden
Die Anwendung qualitativer Methoden für ArchitektInnen kann als vertiefte Erweiterung gängiger städtebaulicher oder landschaftsplanerischer Entwurfsmethoden angesehen werden. Ausgangspunkt ist eine Mehr-Ort-Forschung (multi-sited-ethnography) die erst darstellen kann, dass und wie sehr Menschen in netzwerkartigen Beziehungen zueinanderstehen und mobil miteinander agieren. Dieser Grundsatz ist deshalb wichtig, weil Menschen und Dinge oft miteinander in Bewegung sind und so ihre Bedeutungen kommunizierend festschreiben. Den Themen oder Orten, die in den Interviews und Gesprächen vorkamen, sollte von den ForscherInnen in der Regel nachgegangen werden – nur so ergeben sich logische Beziehungen und nachvollziehbare, „selbst erlebte“ Interpretationsgrundlagen. Sobald man durch direkte Beobachtung mit dem Forschungsfeld vertraut ist, geht man zur fokussierten Beobachtung über und richtet sein Interesse auf einen bestimmten Ausschnitt des Feldes.
Erste Gespräche ergeben sich bei diesem „architekturanthropologischen“ Zugang oft zufällig. In der Phase der informellen Gespräche ist die Rolle des Forschers, der Forscherin noch unausgesprochen, es wird erst möglich, die Rolle offen zu legen, wenn das informelle Gespräch zum ethnographischen Interview wird. Erst dann hat der Forscher, die Forscherin Zeit und Raum die persönliche Rolle offen zu legen und zu erklären, was er oder sie hier tut und was erforscht werden soll. Neben Experteninterviews und narrativen Gesprächen bildet das teilstandardisierte narrative Interview die häufigste Gesprächsform. Hier wird ein themenspezifischer Frageleitbogen mit einer prägnanten Einstiegsfrage und möglichst kurzen, verständlichen Fragen entwickelt.
Eine passende Methode um herauszufinden, wie die Menschen ihren Raum wahrnehmen, welche Wege sie benützen und welche Orte sie für wichtig erachten, ist die Mental Map. Hier werden InformantInnen gebeten ihren Umgebungsraum einfach aufzuzeichnen, einschließlich Treffpunkten, Merkzeichen usw. In manchen Fällen können InformantInnen auch aufgefordertert werden, sich selbst zu beobachten, indem sie ihren Tagesablauf mittels Kamera und Notizen dokumentieren. InformantInnen können zudem auch auf ihren alltäglichen Wegen begleitet werden.
Einen zentralen Stellenwert nimmt das Feldtagebuch ein, in welches Befindlichkeiten, wie Wünsche, Ängste oder Überraschungen verzeichnet werden. Es werden Beobachtungen notiert, Erzählungen aufgeschrieben, es werden umfassendere Beschreibungen angefertigt oder räumliche Situationen in Form von Skizzen oder Diagrammen festgehalten.
Die Gespräche werden dann transkribiert und gemeinsam mit den Aufzeichnungen im Feldtagebuch, sowie dem Foto und Filmmaterial analysiert. Die Inhalte werden nach Themenfeldern geordnet und kodiert. Für die Entwicklung der Projektidee ist eine kritische Interpretation der Ergebnisse notwendig, weil Aussagen nicht 1:1 übernommen werden können solange man sich nicht im Klaren darüber ist, was sie bedeuten. Zur Analyse der Feldnotizen gehört: 1. Das Transkribieren der Interviews. 2. Das wiederholte Lesen der gesamten Aufzeichnungen. 3. Das Stellen von Fragen an die und Interpretieren der Notizen. 4. Das Kodieren der Feldnotizen und das Verfassen von Memos.
Als erstes muss ein Thema gefunden werden, indem die Projektidee integrativ verankert ist. Dafür wird das Material aus verschiedenen Perspektiven gelesen. Es werden Fragestellungen aufgeworfen, sowie blinde Flecke oder Lücken im Datenmaterial definiert und weitere Forschungsschritte geplant. (z.B. weitere Feldaufenthalte oder Literaturrecherchen).
Ist das Thema schließlich fixiert, kann es nach den Regeln des Architekturentwurfes ausgearbeitet werden. Ein passender Titel und die Formulierung eines inhaltlichen Rahmentextes runden die graphische Darstellung der Ergebnisse ab.
Ergebnis
Das Ergebnis Theoriegeleiteter Projektentwicklung bildet:
- Ein nachhaltiges und benutzerorientiertes Instrument der endogenen Raumentwicklung.
- Eine wissensorientierte Formulierung von Hypothesen bezüglich lokaler Räume (urbane oder rurale) und der sie bestimmenden materiellen und nicht-materiellen Ressourcen.
Nachhaltigkeit ist insofern gegeben, als die entwickelten Konzepte lokale Bedingungen, besonders hinsichtlich der Dauerhaftigkeit und der Ausgewogenheit sozialer, ökonomischer und ökologischer Beziehungen, als grundlegend begreifen. Die Ergebnisse „endogenen Entwerfens“ berücksichtigen also neu aufkommende Raumansprüche in konkreten Räumen.
Sinnvoll anzuwenden ist diese architektur-anthropologische Methode besonders für: Zwischennutzungen, Ortskernbelebungen, aktivierende Interventionen sowie für Mobilitäts- und Verkehrskonzepte. Insgesamt kann diese Herangehensweise als Funktions- und Ideenentwicklung für Architektur-, Stadt- und Regionalentwicklungskonzepten verstanden werden.
Autor: Manfred Omahna, in: Endogene Ressourcen als Entwurfsgrundlage, in: Manfred Omahna, Franziska Schruth (Hg.): Endogenes Entwerfen. Qualitative Forschung in der Architektur. Ein kulturanthropologisch-architektonisches Studienprojekt zur Stadt- und Regionalentwicklung von Kapfenberg, Verlag der Technischen Universität Graz, Graz: 2016.